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Flotten der Welt => Die italienische Marine => Thema gestartet von: Richard Aigner am 12 Juni 2018, 13:53:06

Titel: Ermordung des führenden Codebrechers der italienischen Marine: ein Einzelfall?
Beitrag von: Richard Aigner am 12 Juni 2018, 13:53:06
Enrico Cernuschi, "Breaking Ultra: The Cryptologic and Intelligence War between Britain and Italy, 1931 - 1943", in Warship 2018, p. 91, erwähnt die Ermordung des Cryptoanalytikers Verita Poeta am 22.10.1939 und eines Kollegen im Jänner 1940, jeweils vergiftet mit Antimon.
Waren das Einzelfälle oder damals gängige Praxis gegnerisches Führungspersonal aus dem Weg zu räumen? Falls letzteres zutrifft, könnt Ihr mir Einzelheiten nennen?
Gruß und Dank aus Österreich
Richard
Titel: Re: Ermordung des führenden Codebrechers der italienischen Marine: ein Einzelfall?
Beitrag von: Che_Guevara am 12 Juni 2018, 21:07:13
nur der Vollständigkeit halber :)

Giorgio Verita Poeta verstarb am 22. Oktober 1939 in einer Klinik in Rom an Nierenversagen (nach einem einwöchigen Krankenhausaufenthalt).

Claudio Cardellini, Leiter der Forensischen Medizin an der Universität Turin hat in diesem Zusammenhang mehrere Knochenproben aus dem Familiengrab entnommen und mithilfe der Gaschromatographie untersucht. Dabei wurden in der Tat Blei, Antimon und Arsen entdeckt, allerdings wurde diese Mittel (zur damaligen Zeit bis 1952) als restaurative Arzneimittel verwendet.

Claudio Cardellini als Professor der Gerichtsmedizin und Mann der Wissenschaft konnte vor diesem Hintergrund nicht bestätigen, dass Giorgio Verita Poeta tatsächlich vergiftet worden ist (aber auch nicht entkräften).

Allerdings deuten laut dem Artikel die letzten Aufnahmen von ihm vom 24. September 1939 nicht daraufhin, dass Giorgio eine restarurative Behandlung nötig gehabt hätte.

http://www.bellunopress.it/2017/03/03/lenigma-della-morte-dellufficiale-dei-servizi-segreti-giorgio-verita-poeta-raccontati-a-liberal-dal-nipote-ottavio-di-bevilacqua/

Die Ergebnisse der forenischen Untersuchung wurden am 18. Oktober 2014 auf der entsprechenden Konferenz in Verona vorgetragen :)

http://www.veronaeconomia.it/2014/10/20/leggi-notizia/argomenti/annunci-e-varie/articolo/irrisolto-il-mistero-della-morte-di-giorgio-verita-poeta-1903-1939-un-veronese-di-grande-intelli.html

Es ist interessant welche Ehrungen der Marineoffizier Giorgio Verita Poeta noch heute in Italien erfährt, während in Deutschland die Leistungen eines Wilhelm Tranow vergessen und nicht gewürdigt werden.
Titel: Re: Ermordung des führenden Codebrechers der italienischen Marine: ein Einzelfall?
Beitrag von: am 12 Juni 2018, 21:14:07
Zitat von: Richard Aigner am 12 Juni 2018, 13:53:06Waren das Einzelfälle oder damals gängige Praxis gegnerisches Führungspersonal aus dem Weg zu räumen? Falls letzteres zutrifft, könnt Ihr mir Einzelheiten nennen?

Mir fällt dazu (falls man den nächtlichen Überfall auf das angebliche Hauptquartier Rommels, das in Wirklichkeit nur den Oberquartiermeister des DAK beherbergte im November 1941 außer acht läßt) eigentlich nur die Ermordung Heydrichs am 27.05.1942 in Prag ein. Er starb einige Tage später im Krankenhaus aus bis heute nicht vollständig geklärter Ursache, nachdem die Verletzung zunächst nicht besonders schwer ausgesehen hatte (er war noch kurz hinter den Attentätern hergelaufen und hatte bei dieser Verfolgung mit seiner Pistole auf sie geschossen). Auch im Krankenhaus ging er noch selbstständig zum Röntgengerät.

Wäre jetzt alleine noch kein Grund, einen Einsatz einer B-Waffe zu vermuten, wenn nicht der Leiter der britischen Biowaffenentwicklung in Porton Down, Paul Fildes später wiederholt zu Biowaffen-Expertenkollegen geäußert hätte, »he had a hand in the death of Heydrich«, bzw. »To a young American biologist, → Alvin Pappenheimer (http://www.nap.edu/openbook.php?record_id=9681&page=265), later Professor of Microbiology at Harvard, Fildes was even more melodramatic. Heydrich's murder, he told Pappenheimer, "was the first notch on my pistol".« [Robert Harris/Jeremy Paxman, »A Higher Form of Killing. The Secret History of Chemical and Biological Warfare«, S. 94]

Der Spiegel behauptete in seiner Ausgabe vom 25.10.1993 (Nr. 43/1993), S. 227 - 233), daß von der britischen Biowaffenzentrale Porton Down Botulinumtoxin bei dem Attentat auf Heydrich verwendet worden sein soll. Allerdings lassen sich die dabei zu erwartenden Symptome wohl nicht mit dem klinischen Bild bei Heydrich, so weit es sich heute noch nachvollziehen läßt (die Krankenakte ist verschwunden) in Übereinstimmung bringen. Tatsache dürfte aber nach den wiederholten Auslassungen von Fildes sein, daß irgendein biologischer Kampfstoff verwendet wurde. Anders lassen sich die unstrittigen Manipulationen, die an dem Sprengsatz vorgenommen worden waren, nicht plausibel erklären.

Gruß
Thomas
Titel: Btw: Wilhelm Tranow
Beitrag von: TW am 13 Juni 2018, 11:36:57
Zitat von: Che_Guevara am 12 Juni 2018, 21:07:13
Es ist interessant welche Ehrungen der Marineoffizier Giorgio Verita Poeta noch heute in Italien erfährt, während in Deutschland die Leistungen eines Wilhelm Tranow vergessen und nicht gewürdigt werden.

Neben einem Interview, das 1945 mit Tranow geführt wurde (auf englisch): https://drive.google.com/file/d/0B7sNVKDp-yiJZDllM2IwMzMtNjZjMi00MmU0LTg5MTEtNTVkNjljZjQ4Yzk3/view

gibt es noch eines von David Kahn (auf deutsch, übersetzt von Suzanne Kahn) aus dem Jahr 1970, das im Marinearchiv der Bibliothek für Zeitgeschichte liegt.

Außerdem:
David Kahn: Hitler's Spies. Chapter 14, 'The Codebreaker [= Wilhelm Tranow, TW] Who Helped the U-Boats.' Cambridge, MA: Da Capo Press, 1978, 213-222.
Titel: Re: Ermordung des führenden Codebrechers der italienischen Marine: ein Einzelfall?
Beitrag von: Urs Heßling am 13 Juni 2018, 12:09:11
moin,

Zitat von: Richard Aigner am 12 Juni 2018, 13:53:06
Waren das Einzelfälle oder damals gängige Praxis gegnerisches Führungspersonal aus dem Weg zu räumen?
Ich denke : Einzelfälle, so wie die Entführung Generals Kreipe von Kreta (Ziel war Gen. Müller gewesen)
https://www.kreta-wiki.de/wiki/Kreipe (https://www.kreta-wiki.de/wiki/Kreipe)


Zitat von: Götz von Berlichingen am 12 Juni 2018, 21:14:07
Der Spiegel behauptete in seiner Ausgabe vom 25.10.1993 (Nr. 43/1993), S. 227 - 233), daß von der britischen Biowaffenzentrale Porton Down Botulinumtoxin bei dem Attentat auf Heydrich verwendet worden sein soll. Allerdings lassen sich die dabei zu erwartenden Symptome wohl nicht mit dem klinischen Bild bei Heydrich, so weit es sich heute noch nachvollziehen läßt (die Krankenakte ist verschwunden) in Übereinstimmung bringen.
Meines Wissens ist H. an einer Blutvergiftung aufgrund der mit den Bombensplittern in den Körper eingedrungenen Fasern der Wagenpolsterung verstorben.


Zitat von: Che_Guevara am 12 Juni 2018, 21:07:13
Es ist interessant welche Ehrungen der Marineoffizier Giorgio Verita Poeta noch heute in Italien erfährt, während in Deutschland die Leistungen eines Wilhelm Tranow vergessen und nicht gewürdigt werden.
Mit der Ehrung Alan Turings https://de.wikipedia.org/wiki/Alan_Turing#Postume_Ehrungen (https://de.wikipedia.org/wiki/Alan_Turing#Postume_Ehrungen)
hat sich GB auch mehr als 50 Jahre Zeit gelassen :wink:

Gruß, Urs
Titel: Re: Ermordung des führenden Codebrechers der italienischen Marine: ein Einzelfall?
Beitrag von: Götz von Berlichingen am 13 Juni 2018, 14:14:00
Zitat von: Urs Heßling am 13 Juni 2018, 12:09:11Meines Wissens ist H. an einer Blutvergiftung aufgrund der mit den Bombensplittern in den Körper eingedrungenen Fasern der Wagenpolsterung verstorben.

Das ist die Version, die geheimdienstlicherseits gerne gehört wird (in jenen Kreisen nennt man das wohl »Legende«, bzw. »cover up«).

Tatsächlich ist die Todesursache wohl weiterhin ungeklärt:

»Sepsis
Die Autopsiebefunde widerlegen die pathologische Diagnose eines "septischen Organversagens" und erklären nicht das beim entfiebernden Patienten unvermittelt eingetretene Koma«
(S. 161)
Prof. Dr. Dr. Nicolas Hardt, Departement Chirurgie Kantonsspital Luzern, »Das Attentat von Prag 1942 und die Chirurgie - Zwischen Wissenschaft und Politik«,  in: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie - Mitteilungen 02/2012, S. 157 - 164
https://www.dgch.de/uploads/tx_news/2012-02_DGCH-Mitteilungen.pdf

Prof. Hardt schreibt weiter, daß »die Hypothese, daß die Handgranate mit Botulinustoxin oder mit MIlzbrandsporen imprägniert worden war [...] sich gleichfalls als unzutreffend erwiesen [hat]« (ebenda, S. 162)

Jedenfalls gibt es zwei »smoking guns«: