Vor 75 Jahren: Meuterei und Standgericht

Begonnen von Urs Heßling, 05 Mai 2020, 12:04:53

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Urs Heßling

moin,

der Fall M 612

Was kann man heute noch dazu sagen ?

Ein Versagen der Nerven, aber geahndet mit einem Versagen der Gerechtigkeit ?

Gruß, Urs


Siegfried Lenz: Ein Kriegsende
Film Rottenknechte

Es waren 2 Schnellboote der 3. Schnellboot-Schulflottille
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

maxim

Ist bekannt, was mit den Verantwortlichen für diese Todesurteile passiert ist?

Axel Niestle

Hallo Urs,

vielen Dank für Deinen Beitrag!

Ich bin mir aber sicher. dass die rund 200.000 Kurland-Kämpfer, die in Libau und anderswo am Strand vergeblich auf die letzte Rettung über See in den Westen durch Einheiten der Kriegsmarine warteten, damals eine andere Meinung zu dem Verhalten der Meuterer und den vollstreckten Strafen hatten als wir es heute pflegen. Nicht ohne Grund haben die Alliierten der Wehrmacht die Kriegsgerichtsbarkeit in den Tagen während und auch noch nach der Kapitulation überlassen. Das war einfacher für sie!

Beste Grüße

Axel


TW

#3
Sorry Axel,
aber ich muss Dir widersprechen.
Die Schuld dafür, dass die Kurlandkämpfer nicht rechtzeitig aus der Front gezogen wurden, liegt nicht bei den Meuterern vom M 612 und anderen Deserteuren. Und das Verhalten der Engländer (die meinst Du ja, und nicht die Alliierten) ist auch nicht so einfach zu erklären, wie Du das andeutest. Ich verweise dazu auf die Angelegenheit R 414.

Im Übrigen sind das Eine (Meuterei) und das Andere (Wehrjustiz bleibt bei den Deutschen) zwei Paar Stiefel. Denn die Briten trafen diese Entscheidung nicht auf Grund von Fahnenflucht und Meuterei in der KM.
Viele Grüße,
Thomas

Anm.: Die Meinung der Kurlandkämpfer zur Meuterei ist mir nicht bekannt. Ich glaube nicht, dass sie damals etwas davon erfuhren. Mein Vater, der dort in russische Gefangenschaft ging, hat sein Leben lang nichts davon erfahren oder darüber nachgedacht.

Zitat von: maxim am 05 Mai 2020, 14:53:11
Ist bekannt, was mit den Verantwortlichen für diese Todesurteile passiert ist?

Die Urteile gerieten erst in die Kritik, als die Verantwortlichen schon sehr alt waren. Keiner der Kritiker wollte noch justiziell mit ihnen abrechnen, sondern es ging um die historische Beurteilung dieser Fälle.

TW

Für Alle, die gerne wissen möchten, was ich mit dem Verweis auf R 414 meine:

7.– 9.5.1945
Dänemark / Ostsee

Trotz Inkrafttreten der Teilkapitulation (am 4.5.45) ergeht an zwei vor Kopenhagen liegende Räumboote R 412 und R 414 der Befehl, nach Hela auszulaufen, um noch Flüchtlinge abzuholen. Auf R 414 (Lt.z.S. Constabel) widersetzen sich 2 Besatzungsmitglieder den deutschen Befehlen und wollen die Offiziere an Bord überwältigen; doch der Versuch scheitert. Das Boot verlegt in den Sund bei Drogden, ein Standgericht (KKpt. Hansen-Nootbar) wird einberufen, stellt aber fest, dass ein Urteil unzulässig wäre, wenn ein deutsches Kriegsgericht erreichbar ist. R 414 kehrt zuerst nach Kopenhagen zurück, wird dort zum Fährdienst im Hafengebiet eingesetzt und verlegt nach Gesamtkapitulation der Wehrmacht nach Flensburg, wo sich die ,,Meuterer" in den Schutz der englischen Besatzungsmacht begeben. Der Kommandant von R 414 wird von den Briten verhaftet, die Besatzung von Bord gejagt. (Hans Constabel: Hol nieder Flagge! Ereignisse um ein Standgericht. DSM, Bremerhaven 2001)

Urs Heßling

moin,

im Fall M 612 lag
- vollendete Meuterei (Vorgehen mit Waffengewalt gegen die Schiffsführung, die Meuterer hatten das Schiff in ihre Gewalt gebracht)
- in Kriegszeiten
- im Kriegsgebiet
vor.

Die Alliierten haben viele Kriegsgerichtsurteile (besonders betr. Geiselerschießungen) untersucht, diesen Fall nicht.

Meuterei war in GB bis 1998 und ist in den USA bis heute mit der Todesstrafe bedroht.
Ich glaube, daß ein britischer, französischer oder sowjetischer Militärrichter im Jahre 1945 nicht gezögert hätte, in einem vergleichbaren Fall die Todesstrafe zu verhängen.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

TW

Aber Urs ... !
Du beurteilst die Dinge quasi apolitisch. Das finde ich nicht richtig.

Die Dinge passierten in Kriegszeiten? Sie passierten in einem von Nazideutschland gegen die Allliierten angestifteten Krieg, der als solcher in Nürnberg auch verurteilt wurde.

In einem Kriegsgebiet, das von einem Unrechtsregime terrorisiert wurde.

Anschließend vergleiche doch die Zahl der Wehrgerichtsurteile (zum Tode) in Deutschland einmal mit denen der Alliierten. Etwa 30 zu 20.000.

Und schließlich noch der Hinweis, dass die Alliierten bei Meuterei und Widerstand nicht grundsätzlich zum Tode verurteilten. Auch dafür gibt es Beispiele in der "Chronik des Seekrieges".

Axel Niestle

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 16:45:02
Sorry Axel,
aber ich muss Dir widersprechen.

Hallo Thomas,

Du musst Dich nicht entschuldigen, wenn Du anderer Meinung bist. Das ist doch Dein gutes Recht! Und Deine Kritik ist mir immer lieb und wertvoll.

Aber auch die Meuterer hatten einen Eid geschworen, von dem sie noch nicht entbunden waren. Im Übrigen möchte ich ja auch keineswegs der Notwendigkeit einer Vollstreckung der Todesurteile das Wort reden. In der brutalisierten und fanatisierten Welt von damals galten andere Maßstäbe als heute, so dass ein direkter Vergleich immer hinkt.

Mit den besten Grüßen

Axel   

TW

Hi Axel,
eine echte, keine rhetorische Frage: Wie war das mit dem Eid?
Wer freiwillig zum Militär geht und seinen Eid ablegt, muss sich daran halten. Das finde ich auch. Aber was ist mit den massenhaft Zwangsrekrutierten. Konnten sie den Eid auch verweigern?

Und noch ein Satz über Urs' Statement: Ein Versagen der Nerven, aber geahndet mit einem Versagen der Gerechtigkeit ?

Ich denke die ganze Zeit über diesen Satz nach. Kostete die Meuterei nicht sehr viel mehr Nerven als stiller Gehorsam? Und nach dem, was Du über das gerechte Todesurteil sagtest, Urs, weiß ich nicht mehr, was Du mit "Versagen der Gerechtigkeit" meinst.

maxim

Und was bedeutet der Eid, wenn die Marine in der Region eigentlich schon kapituliert hat?

Mal abgesehen davon, dass ich einen Eid in einer Terrorherrschaft auch für irrelevant halte. Der ist genauso erzwungen wie fast alles andere.

TW

#10
Während von M 601 in der Nacht zuvor fünf Besatzungsmitglieder desertiert sind und das Boot daher nicht einsatzbereit ist, läuft M 612 (Oblt.z.S. Kropp) entgegen den Bedingungen der Teilkapitulation (vom 4.5.45) von Sonderburg aus. Doch Teile der Besatzung wollen ihr Leben nicht mehr aufs Spiel setzen, widersetzen sich den deutschen Befehlen und nehmen die Offiziere an Bord fest.

Die Wehrmacht hatte in einem Teilgebiet, in Schleswig-Holstein und Dänemark, nicht nur "eigentlich", sondern tatsächlich und definitiv kapituliert. Die Engländer hatte allen dt. Kriegsschiffen ein Auslaufverbot erteilt.

Wäre M 612 vor Kurland von den Russen aufgebracht worden, dann hätte das Tod oder Kriegsgefangenschaft in Sibirien bedeutet.

Urs Heßling

moin, Thomas,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Du beurteilst die Dinge quasi apolitisch. Das finde ich nicht richtig.
Das steht Dir natürlich frei.
Aber Du betrachtest sie aus heutiger Sicht. Das halte ich für un-historisch.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Die Dinge passierten in Kriegszeiten? Sie passierten in einem von Nazideutschland gegen die Allliierten angestifteten Krieg, der als solcher in Nürnberg auch verurteilt wurde.
In einem Kriegsgebiet, das von einem Unrechtsregime terrorisiert wurde.
Die Meuterei auf M 612 war kein Akt des Widerstands gegen ein Unrechtsregime so wie zB noch 1975 die Meuterei auf der Storoshevoyy.
Es war de facto (zusätzlich) ein Fall von kollektiver Fahnenflucht.
Es wurde der Wehrmacht und der Wehrmachtsjustiz nicht grundsätzlich vorgeworfen, daß man für ein Terrorregime gekämpft hatte.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Anschließend vergleiche doch die Zahl der Wehrgerichtsurteile (zum Tode) in Deutschland einmal mit denen der Alliierten. Etwa 30 zu 20.000.
Ich weiß das, und es ist furchtbar.
Aber es ist für diesen Einzelfall nicht relevant.

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 17:45:20
Und schließlich noch der Hinweis, dass die Alliierten bei Meuterei und Widerstand nicht grundsätzlich zum Tode verurteilten. Auch dafür gibt es Beispiele in der "Chronik des Seekrieges".
Richtig ... nicht grundsätzlich.

Ich verstehe Deine Emotionen. Aber sie sind bei der Bewertung, ob diese Urteile Unrecht waren, nicht am Platz.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Urs Heßling

moin,

Zitat von: TW am 05 Mai 2020, 18:32:00
Doch Teile der Besatzung wollen ihr Leben nicht mehr aufs Spiel setzen,
Gültiges Wehrstrafgesetz § 6
Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen.

Der Kommandant M 612 trug die Verantwortung für sein Handeln (ggf. gegenüber einem alliierten Gericht, das ein Berufen auf Befehle einer vorgesetzten Dienststelle evt. nicht akzeptiert hätte). Da sein Handeln aber keine Straftat beinhaltete, bestand für die Besatzung erst einmal Gehorsamspflicht.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Urs Heßling

moin, maxim,

Zitat von: maxim am 05 Mai 2020, 18:16:01
Und was bedeutet der Eid, wenn die Marine in der Region eigentlich schon kapituliert hat?
Solange die Streitkraft nicht offiziell aufgelöst ist, besteht die Eidpflicht (weiter).


Zitat von: maxim am 05 Mai 2020, 18:16:01
Mal abgesehen davon, dass ich einen Eid in einer Terrorherrschaft auch für irrelevant halte. Der ist genauso erzwungen wie fast alles andere.
Tja.
Diese Frage hat auch die Attentäter des 20. Juli bewegt, die wohlgemerkt! 1934 oder noch früher ihre Eide wirklich (frei)willig abgelegt hatten.
Ihre Logik war, daß Eidgeber (Soldat) und Eidnehmer (Hitler) eine gegenseitige Pflicht zur Loyalität haben.
Wenn der Eidnehmer seine Pflicht und Verantwortung gegenüber dem Eidnehmer verletzt bzw. gar nicht mehr beachtet, ist der Eidgeber von seiner Eidespflicht entbunden.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

TW

#14
Nein Urs,
Desertion ist ein Akt des Widerstandes gegen einen Krieg, den man nicht will.
Es ist die einzige Möglichkeit des "Schützen Arsch", sich zu widersetzen.
Und wenn man gemeinsame Sache mit Kameraden macht, dann ist es Meuterei.

Wo ist den nun das von Dir zitierte "Versagen der Gerechtigkeit" ?
Ist doch aus Deiner Sicht alles prima gerecht gelaufen, wie ?

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