M 575 Jahresausklang 1941

Begonnen von Seekrieg, 30 Dezember 2011, 20:17:34

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Seekrieg

Verspäteter Weihnachtsglanz

29. Dezember Kiel - Dresden
05.33 Uhr Abfahrt. Wie liebliche Musik klingt wieder das Rattern der Räder und das Gestampfe der Schienenstöße. Es läßt sich mit dem Maschinen-stampfen an Bord nicht vergleichen. Es hat ja auch einen ganz anderen Sinn, ein anderes Ziel.
Wie schnell die Stationen vorübereilen, wie rasch sich Dorf und Stadt aneinander reihen. Und jeder Ort hat sein besonderes Gepräge, seine eigene Note, seine Vergangenheit und Geschichte, ja selbst seine kulinarische Besonderheit. Kiel erfreut durch seine Sprotten und Hamburg durch sein Rundstück. In unserer Hauptstadt wieder lobt man die Berliner Weiße und bei uns zu Hause die Christ-Stollen und die Dresdener Eierschecke. Hoffentlich haben die Buben nicht schon alles über die Feiertage weggefuttert.
In Ludwigslust umsteigen in den Nord-Südexpreß und dann geht es mit AK landeinwärts. Wie schade, daß ich nicht wie an Bord auch auf der Lokomotive auf der Brücke stehen kann. Ich würde schon richtig steuern, aber es vergeht auch so Stunde um Stunde und schließlich rollt der Zug doch stolz und prustend in die große Bahnhofshalle ein. Husch, husch, in die nächste Straßenbahn. Ich glaube, man könnte hundert Jahre von zu Hause fort sein, der Weg zurück wird einem immer bekannt und geläufig bleiben.
Leer und aus gestorben ist an diesem kalten Wintertag die Straße. Man zieht es vor, hinter dem warmen Ofen zu sitzen. Ich hatte doch aber schnell noch von Kolberg aus geschrieben, daß ich am 29. komme. Schließlich hat der Tag auch erst angefangen. Leise schleiche ich die Treppe hinauf. Der Schlüssel steckt, behutsam trete ich ein. Aus der Stube klingt Tellergeklapper. Wahrscheinlich sind sie gerade beim Mittagessen. Vorsichtig klinke ich die Tür auf und stecke den Kopf herein. Da kommt aber auch schon Günter jubelnd herangeschossen. Gertrud fliegt hinterdrein und als letzter kommt Klein-Jürgen angewatschelt, um den Vati zu begrüßen. Endlich ist der Vati da!
Urlaub. Urlaub kann man nicht erklären. Dafür läßt sich ebensowenig eine Definition finden wie für Gott, für die Liebe oder für das Glück. Man kann dieses Gefühl nicht schildern, erläutern oder gar auf einen anderen übertragen. Nein, man muß es erlebt haben. Urlaub ist eine Seelenschwingung mit einer unvorstellbar großen Amplitude und alt unendlich vielen Oberschwingungen und neuen Lebensimpulsen. Es ist eine Anhäufung, eine Summe von Liebe, Glück und stillen Geborgenseins. Ist es dann noch ein Wunder, daß man die Fülle des plötzlich hereinstürzenden Guten gar nicht erfassen und verarbeiten kann. Hängen einem nach den langen, liebeleeren Monaten doch auf einmal gleichzeitig Mutti, Günter und Jürgen liebkosend am Hals. Möchte man nicht sechs Ohren haben statt nur zwei, um ihrem freudigen und überhasteten Geplauder zu lauschen und drei Zungen, um jedem Rede und Antwort zu stehen? Oder wie ist es mit dem trotz der Kriegszeit doch so üppig gedeckten Tisch? Wird einem nicht auch hier zu viel zugemutet? Gewiß, ein bißchen gut essen und trinken sind nun einmal integrierende und dominierende Bestandteile eines jeden Urlaubs und eine leckere Angelegenheit. Dabei aber ist das Essen selbst nicht einmal das Primäre, das ausschlaggebende. Das liegt in einer anderen, höheren Ebene. Für mich sind die dampfenden Schüsseln und Teller in erster Linie, wenn nicht die sinnigste, so doch die augenfälligste Ausdrucksform eines lang verhaltenen fraulichen Liebhabens und einer sich anders nicht zu helfen wissenden übergroßen Liebe. Diese Erkenntnis läßt einen denn auch wacker zulangen und essen, obwohl man mit noch größerer Freude die besten Bissen am liebsten den beiden Buben ins runde Mäulchen gestopft hätte. Sie müssen ja noch mehr entbehren als wir Erwachsenen und schließlich hält auch bei unseren Kindern nur Essen und trinken Leib und Seele beisammen.
,,Gestern", so erzählte Gertrud, ,,haben Günter und Jürgen zum Abendbrot die hundert Gramm Wurst, die ich vom Fleischer geholt hatte, ganz allein aufgegessen und als ich ihnen dann sagte, daß ich auch gern einmal gekostet hätte, antwortete Günter: ,,Ach Mutti, das ist doch nicht nötig, die schmeckt genau noch so wie sonst." Ja, so ist es daheim. Immer schafft, opfert und spart die Mutter für die anderen, und sie ist so glücklich dabei.
Heute gibt es keine hundert Gramm Wurst zum Abendbrot, heute gibt es zur Feier des Tages ein warmes Diner. Entenbraten, Klöße und Rotkraut. Ich wundere mich nicht. Nach dem vorher Gesagten muß es wohl so sein.
Am Christbaum brennen die Lichter. Sein Glanz verbreitet einen letzten Rest verspäteter, weihnachtlicher Zauberwelt, aber er verliert auch schon die Nadeln. Jürgen klaubt sie vom Fußboden auf und bringt sie mir. ,,Vati, wieder dranmachen", bettelt er. Wie schade, daß man das nicht bringt. Vatis müßten eigentlich alles können.

30. Dezember Dresden
Der Weihnachtsmann hat es heutzutage auch schwer. Nach allen Richtungen hin möchte er Verbindungen auf nehmen, und in jeden Winkel muß er seine Fühler ausstrecken, damit er von den vielen, vielen Wünschen wenigstens einen Bruchteil erfüllen kann. Es ist nur gut, daß ich ihm rechtzeitig unter die Arme gegriffen habe. Große Freude herrschte natürlich über das gebastelte Schiffsgeschütz und den Kran. Günter meinte gleich: ,,Das gehört natürlich mir!"

31. Dezember Dresden
Letzte Tage haben immer etwas Schwermütiges, auch der letzte Tag des Jahres hat trotz aller Sylvester-Heiterkeit einen wehmütigen Beigeschmack. Man weiß, was war, niemals aber, was kommt. Und auf besseres zu hoffen gewöhnt man sich in dem Maße ab, in dem man älter wird. Toren hoffen, Greise wissen!

10. Januar 1942 Dresden
Härter vielleicht noch als die eigentliche Frontgeneration trifft der Krieg die alten Leute, unsere Eltern und alle die, die den Zenit des Lebens schon hinter sich haben und das Ende ihrer Tage langsam auf sich zukommen sehen. Verfangen in der Skepsis des Alters haben sie die Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr friedlicher und geruhsamer Zeiten längst aufgegeben. Freudlos leben sie dahin und verbringen ihre Tage in bitterer Resignation und im verzehrenden Bangen um ihre Kinder und Angehörigen an den Fronten. Sie leben - und leben doch nicht.
Wir Jüngeren sind zu einem solchen Leben in Passivität noch nicht bereit. Wir hoffen trotz aller gegenwärtigen Not und Gefahr auf eine schönere Zukunft und glauben an die Auferstehung der Freude. Hoffen und Glauben aber sind genau wie Resignieren und sich Bescheiden relative Werte. Sie werden zu unterschiedlichen Kursen gehandelt, erschweren den Austausch von Meinungen und Ansichten und bilden gern gegensätzliche Fronten. Diese aber treten naturgemäß zuerst innerhalb der Familie auf, wo sich die Lebensalter und Generationen am innigsten und ausgeprägtesten berühren. Da ich aber auch bei Vater und Mutter dieses Zurückweichen und Absinken des Lebenswillens beobachte, bleiben mir diese Erfahrungen und Wirrnisse auch nicht erspart, und es wird von Urlaub zu Urlaub immer schwieriger, das alte selbstverständliche und gewohnte familiäre Einvernehmen aufrechtzuerhalten, zumal man in diesen kurzen Tagen einmal betont nur Sonne genießen und aufatmen will.
Aber wie schwierig ist es, allein ein Gespräch mit ihnen zu führen, in dem die Ansichten noch einigermaßen parallel verlaufen. Man hat sich, und das ist natürlich alters- und zeitbedingt zu sehr auseinandergelebt und ist sich fremd geworden. Niemand aber will diese schmerzliche Erkenntnis wahrnehmen. Man spricht deshalb meist von belanglosen Dingen, weicht sich im übrigen verlegen aus und begegnet sich nur noch an der Peripherie des Alltags.
Schließlich ist man nicht nach Hause gekommen, um Lasten, düstere Perspektiven und Sorgen auf sich zu nehmen, sondern so viel als möglich davon abzulegen. Nun ist man enttäuscht, daß dafür kein freier Platz mehr vorhanden ist. Man hat vergessen, daß auch zwischen Front und Heimat und zwischen jedem einzelnen von uns der Krieg steht und daß die Zeit, die kommt und geht und nimmt, die verändert und bestimmt, und uns so weit voneinander abrückt, daß man sich manchmal nicht mehr erkennt und selbst den Gepflogenheiten der Liebe nicht mehr gewachsen ist.
Sehr treffend sagte der Vater dieser Tage: ,,Es ist eben ein Unterschied zwischen gestern und heute und auch zwischen mir und dir, aber es wäre töricht, darüber zu rechten. Sicher haben wir beide recht, nur jeder in seiner Zeit und seiner Ebene, und davon muß man ausgehen. Unter diesem Blickwinkel aber sieht man dann die Dinge anders, näher, greifbarer und auch klarer. Und wenn wir im Alter ruhiger sind und verhalten und den Blick mehr nach innen ge- richtet haben, so doch nur deshalb, weil wir von außen nichts mehr erwarten und die Ernte des Lebens schon eingebracht haben. So sind wir reicher in uns, als die Welt um uns. Wir können nichts mehr gewinnen, aber eines nach dem anderen verlieren, auch dich." -
Ich konnte auf die Worte des Vaters nichts erwidern und fühlte nur, wie sich nach jahrzehntelanger Gemeinsamkeit der Weg nunmehr gabelt. Ich möchte weiterhin geradeausgehen, während die Eltern bereits in den einsamen Weg des Alters abbiegen, und manchmal ist es mir, als kämen ihre Worte schon wie von weit her. So wird aus jeder Unterhaltung, aus jedem Gespräch unmerklich ein Trennen, ein Abschiednehmen. Ich hätte nicht gedacht, daß es einmal so früh geschehen müßte und immer geglaubt, man könne sich dazu Zeit lassen bis nach dem letzten Vaterunser. -

Hamburg

13. Januar 1942 Dresden - Kiel
Heute muß ich nun wieder fort. Ich will den Mittagszug benützen, dann bin ich gegen Mitternacht in Kiel.
Wie schwer diese letzten Urlaubsstunden immer sind. Gelangweilt steht man herum; denn es ist sinnlos, noch irgend etwas zu beginnen. So würgt man denn die letzten paar Stunden mühsam hinunter wie altes, trockenes, muffiges Brot.
Günter ist der erste, der sich verabschiedet. Er muß um 11 Uhr in die Schule. Der arme Junge weint immer herzzerbrechend, und dann geht das Herzzerbrechen weiter, so daß man froh ist, wenn man endlich wieder im Zug sitzt.
Angenehm ist das Fahren heute nicht. Es ist kalt in den Wagen. Heute morgen zeigte das Thermometer -12° C. Von der winterlichen Landschaft läßt sich kein Blick erhaschen. Die Fenster sind dicht vereist. Es ist am besten, man zieht den Kopf zwischen die Schultern und versucht zu schlafen.
Mit der Zeit wird es aber doch warm. Die Füße tauen wieder auf und auch der Mund. Bald kommt eine angenehme Unterhaltung in Gang. Es sind fast nur Urlauber im Abteil, Kameraden aus Frankreich, Landser von der Ostfront und ein paar Mariner. Mit Kameraden kommt man ja schnell ins Gespräch.
Zuerst werden die Urlaubsfreuden noch einmal durchgekostet. Sie liegen ja noch so nah. ,,Wißt ihr", sagt der eine, ,,so ein Urlaub kommt mir immer wie ein Topf Erbsen mit Speck vor. Zuerst mundet es ausgezeichnet, aber die letzte Hälfte schmeckt immer angebrannt, und da man alles bis auf den Boden auslöffeln will, so hat die ganze Sache von Anfang an einen faden Beigeschmack." Ich glaube, er meint das richtige.
Dann springt die Unterhaltung auf Fronterinnerungen über und gleitet vom hundertsten ins tausendste. Dabei schimmert durch alle Gespräche eine frohe Zuversicht und der Glaube an ein baldiges Ende.
Pünktlich 23.50 Uhr rollt der Zug in Kiel ein. Glücklich erhasche ich noch die letzte Straßenbahn, die mich rasch zum Scheerhafen bringt. Hier aber halte ich vergeblich Ausschau nach unseren Booten. Sie sind wieder einmal fort. Wo? In Hamburg? In Hamburg! Das ist der nächste Weg.

14. Januar 1942 Kiel - Hamburg
Ich habe in der Sperrschule übernachtet, bis 9 Uhr angenehm geruht, und nun will ich mich mit noch drei Kameraden, die ebenfalls nach Hamburg wollen, auf den Weg machen.
Im Kieler Bahnhof legen wir die erste Rast ein, verzehren ein frugales Rot-Kreuz-Diner und schlürfen eine Tasse Kaffee-Erinnerungswasser, und klettern dann in den Personenzug 14.11 Uhr nach Hamburg. In geruhsamer Fahrt geht es davon. Über den verschneiten Fluren liegt gleißend die Sonne, aber es bleibt kalt, bitterkalt.
Gegen 17.30 Uhr sind wir in Hamburg. Mit der Straßenbahn geht es weiter. Ein Marsch von etwa 15 Minuten folgt, und dann sind wir am Liegeplatz Grasbrook, wo wir unsere Boote, versteckt hinter hohen Gasbehältern, entdecken. Es wird Zeit, daß wir endlich an Ort und Stelle sind. Die Kälte hat uns genügend durchgeschüttelt.
An Bord geht es gleich wieder rund. Alles will den Funkmaat haben. ,,Funkmaat hier! Funkmaat dort"!, ruft es. ,,Funkmaat oben, Funkmaat unten, Funkmaat vorn, Funkmaat hinten." - Ich komme mir vor wie der Figaro. Man ist schon eine bedeutende Persönlichkeit. Was wäre M 575 ohne seinen Funkmaat, was wäre ich ohne meinen M-Bock! So bleibt mir nicht einmal Zeit und Ruhe zu ein paar begrüßenden Worten mit meinen Kameraden.
Zu allem Überfluß kommen gegen 21 Uhr auch noch ein paar feindliche Flugzeuge zu Besuch und erfüllen die Luft mit ihrem unheimlichen Gebrumm. Die eisige, sternklare Nacht ist wie geschaffen für sie. Schon blitzen an allen Ecken Scheinwerfer auf. Eine solch unübersehbare Menge von Lichtkegeln habe ich noch nirgends beobachtet. In Hamburg scheint es mehr Scheinwerfer zu geben als Soldaten. Trotzdem ist nicht ein feindliches Flugzeug zu fassen. Sie müssen sehr hoch sein. Über dem Hafen hängen jetzt einige Leuchtbomben. Es dauert immer eine Ewigkeit, bis sie verlöschen. Unterdessen flammen über dem Stadtgebiet neue auf. Der Feind sucht noch. Achteraus leuchtet der Himmel brandrot auf. Die schwere Flak schießt Sperrfeuer. Dann tritt wieder Stille ein.
Dafür aber stoßen und poltern die großen Eisschollen um so ungestümer an die Bordwände unseres Bootes. Dem schweren Druck ausweichend, neigt es sich bald auf Backbord-, bald auf Steuerbordseite. Es bäumt sich gegen die Pier empor, zermahlt die Fender und zerbricht ein Haltetau nach dem anderen. Die Seeleute haben eine unruhige Nacht.
Zum Glück ist es wenigstens über uns still geworden. Das Gebrumme hat aufgehört und auch das dumpfe Poltern der schweren Flak. Scheinbar steht beim Tommy Hamburg heute noch nicht auf der Tagesordnung. Gegen 23 Uhr erfolgt denn auch die Entwarnung. Es wird Zeit. Heute bin ich rechtschaffen müde.

15. Januar Kiel
Die strenge Kälte hat noch nicht nachgelassen. Allmählich droht das gesamte Hafengebiet zu vereisen. Um in dieser gottverlassenen Ecke nicht bis zum Frühjahr einzufrieren, holt uns gegen Mittag ein Schlepper ab. Mühsam watschelt er durch den Eisschollenacker, zieht uns hinter sich her und sucht an einer belebteren Ecke ein Liegeplätzchen für uns.
Ich verhole mich unterdessen in mein Wachtmeisterschap und führe Papierkrieg. Papierkrieg ist für mich nach wie vor das furchtbarste, was es gibt, und ich weiß schon jetzt, daß ich in diesem Kampfe unterliegen werde. Eigenartigerweise fühle ich mich aber dadurch nicht deprimiert.
Sonst gibt es an Bord nichts Neues. Meine erste Frage galt natürlich dem Verbleib von M 557. Nein! Man hat nicht das Geringste von ihm in Erfahrung bringen können. Es ist spurlos verschollen, untergegangen mit Mann und Maus. M 557, das dritte unserer Flottille.
Gegen 20.30 Uhr heulen wieder die Sirenen. Wieder kratzen die Scheinwerfer den Himmel ab. Vergeblich. Nicht ein einziges feindliches Flugzeug können sie fassen. Minute um Minute vergeht. Das Gebrumme wird stärker. Da, endlich wird ein Bomber, klein wie eine Motte, im Schnittpunkt zweier Werfer sichtbar. Jetzt verfolgen schon sechs Lichtbänder seinen Kurs. Er kurvt und will sich mit Gewalt diesen langen Fingern entziehen. Schon ballert die Flak los. Es ist unheimlich, was hier an Flugabwehr zusammengezogen ist. Oft verschwindet das feindliche Flugzeug völlig in den zahllosen Leuchtspurketten der leichten Geschütze. Jeden Augenblick glaubt man, es müsse brennend abstürzen, aber es tut uns nicht den Gefallen und verschwindet statt dessen bald wieder im schützenden Dunkel der Nacht.
Unterdessen hat sein Kompagnon unbeobachtet eine Serie von grellen Leuchtschirmen an den Himmel gehängt. Scharf heben sich in ihrem Schein die Silhouetten der Hafenanlagen ab. Es herrscht eine atemberaubende Stille. Nur das feine Brummen ist zu vernehmen. Angestrengt verfolgt das Ohr die Flugrichtung. Wo werden die Bomben fallen? Jeden Augenblick vermeint man ihr Heulen und ihr grausiges Bersten zu vernehmen. Die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt. Es ist furchtbar, wenn man die Gefahr kennt und kann sich nicht wehren.
Da endlich haben die Werfer wieder ein Flugzeug im Visier. Befreiend jault der Chor  der Fla-Geschütze auf. Die ganze verhaltene Wut tobt sich aus. Aber wieder ohne jeden Erfolg. Was nützt dann die ganze Abwehr? Und dichter als hier in Hamburg läßt sie sich wirklich nicht mehr zusammenziehen und steigern.
Ich glaube, es ist am besten, man geht unter Deck. Man ärgert sich doch nur, wenn man diesem faulen Zauber noch lange zusieht.

16. Januar Hamburg
Seit gestern nachmittag liegen wir im Freihafengelände am Ellerholzkai, aber auch hier ist es hundekalt. Man getraut sich kaum an Oberdeck zu klettern. Deshalb konnte ich mich auch noch nicht zu einem abendlichen Bummel durch die Stadt entschließen. Z.Z. ist es das beste, man beherzigt die alte Seemannsweisheit: ,,Wozu an Land erst gehen, man kann das Land von Bord auch sehen." –
Über Langeweile kann ich auch nicht klagen. Meine Wachtmeisterei verschafft mir mehr als genug Ablenkung und Zerstreuung. Im Augenblick streite ich mich wieder einmal mit unserer Feldpostdienstelle herum. Die dortige Briefkontrolle schickt mir nämlich laufend all die Briefe zurück, die entweder von Fliegerangriffen erzählen und Kriegsmüdigkeit widerspiegeln oder gar militärische Dinge zur Sprache bringen. Darüber muß ich dann den Kommandanten berichte, damit er die betreffenden Briefschreiber wieder entsprechend ausrichten kann. Heute erhielt ich von der Zensurstelle die freudige Nachricht, daß ganze 68 % unserer Briefpost zu beanstanden waren. Da wird sich der Alte aber freuen! –
Die Seeleute wieder ergötzen sich in dieser kalten Jahreszeit wie üblich von früh bis abends mit Rein Schiff und verbringen auf diese Weise ihre kurzen Tage. Die Kameraden von der Schmierölfakultät hocken seit gestern im Maschinenraum und vertreiben sich dort die Zeit. Zu ihrer Unterstützung sind ihnen noch vier Mann von der Werft zugeteilt, drei Meister und ein Geselle. Dieses Konsortium technischer Intelligenz bemüht sich nun um die allmähliche Aufspaltung der Maschine in ihre einzelnen Bestandteile. So hat denn jeder zu tun und es besteht wenigstens keine akute Gefahr, daß es dem einen oder dem anderen zu wohl wird.

17. Januar 1942 Hamburg
Sonnabend: Heute will ich aber auch einmal an Land gehen, auch  wenn das Quecksilber im Thermometer noch so sehr den Kopf einzieht. Hamburg bei Nacht soll schöner sein als Venedig bei Tage. Also los!
Aber erst werden noch ein paar Kurze genommen, damit wir nicht frieren und uns das Gehen leichter fällt. Wir steigen in die Fähre 7, die aller halben Stunden hier am Ellerholzkai ablegt und fahren vier Stationen bis zu den Landungsbrücken. Jetzt brauchen wir nur noch die Hauptstraße hochzutraben und schon sind wir auf der Reeperbahn.
Hier herrscht  auf und ab ein lebhaftes Gewoge. Gerade das aber haben wir gesucht. Ab und zu will man ja auch einmal etwas Anderes genießen als immer nur Bordluft. Vergnügt tauchen wir in dem Gewühle unter, und überlassen uns ganz dem erhebenden Gefühl: ,,Hier bin du Mensch, hier darfst du´s sein!" -   
Wohin nun zuerst? Hier ist das ,,Allotria", daneben ist ,,Oberbayern", da das ,,Zillertal" und dort ,,Liliput". Da sind zunächst die markantesten und anziehendsten Punkte, aber auch aus jeder anderen Gast- und Vergnügungsstätte springt uns Musik, Frohsinn und Heiterkeit entgegen. Man weiß gar nicht, wohin man gehen, wo man zuerst genießen soll.
Wilhelm, der unsere Unschlüssigkeit bemerkt und der das Terrain bereits kennt, meint kurz entschlossen: ,,Hier geht´s hinein! Hier gibt es für jeden etwas, für die Verkalkten Himbeer- und Zitronenwasser und für die anderen Bier, herrliche Mädchen, Saalpost und sonstige Raffinessen. Hier gilt die Parole: Mit dir Bauch an Bauch und dann durch die Heißmangel!"
Wir folgen Wilhelm, dem in solchen Dingen erfahrungsgemäß eine gute Witterung nicht abzusprechen ist. Im selben Augenblick aber sehen wir auch viele Leute das Lokal verlassen. Vorübergehende sprechen von ,,Luftgefahr 30". Das wirft natürlich unser ganzes Programm um. Im Luftschutzkeller wollen wir unser sauerverdientes Wochenende nicht verbringen. Wir gehen deshalb sofort auf Gegenkurs und versuchen, möglichst rasch wieder die Fähre zu erreichen.
Es gelingt uns nicht. 20.30 Uhr heulen die Sirenen. Luftschutzpersonal und Polizeistreifen zwingen uns in den nächsten Luftschutzkeller. Das hat uns zur Glückseligkeit gerade noch gefehlt! Aber was hilft es. Mir wird es gewöhnlich schon übel, wenn ich in den Kellern die Löschwassernäpfchen, die zierlichen Liliputfeuerspritzen und die Tütchen mit dem Löschsand sehe. Es fehlen nur noch ein paar kleine Steinchen, mit denen man nach den Flugzeugen werfen kann!
Schnell füllt sich unser Luftschutzraum. Von der Straße kommen noch Passanten und aus dem Hause die Bewohner. Die Männer schleppen schwere Koffer und Gepäck mit sich, in denen sie das Lebensnotwendigste verwahrt haben. Die Frauen tragen in ihren Einkaufstaschen Brot und Mundvorrat mit sich, und manche haben an der Hand und auf dem Arm noch ihre Kinder.
Es schnürt einem faßt die Kehle zu, wenn man diesen Jammer sieht. Könnte man nicht wenigstens die Frauen und Kinder verschonen? Spielen sich ja nicht nur hier, sondern in jedem anderen Luftschutzkeller auch diese traurigen Szenen ab. Soweit der Wahnsinn des Krieges reicht, wiederholt sich überall Tag für Tag und Nacht für Nacht das gleiche Leid. Im Übrigen aber sollten wir danach trachten, den Krieg möglichst bald zu beenden; denn auf Kosten der Zivilbevölkerung und einer möglicherweise vorhandenen nationalen Dickfälligkeit allein läßt sich niemals ein Sieg erringen. Wie langsam die Minuten dahinschleichen, und doch sitzen wir schon eine ganze lange Stunde in diesem Keller.
Wie lange noch? 22.20 Uhr. Entwarnung. Endlich!
Wir stürmen zuerst hinaus, um möglichst rasch wieder an Bord zu kommen. Der Abend hat ja nunmehr jeden Reiz verloren. Eben wollen wir in die Straße nach den Landungsbrücken einbiegen, da heult 22.35 Uhr die Sirene zum zweiten Male. Fliegeralarm! Wieder tauchen wir irgendwo in einem Luftschutz-keller unter. Wieder erlebt man die Not gequälter Menschen. Wieder sitzt man wehrlos beieinander und kann nicht helfen und hat auf einmal so viel Zeit, soviel kein Wunder, man sitzt ja schon im offenen Massengrab und vor der Tür steht bereits die Ewigkeit.
23.05 Uhr: Entwarnung. Wir beeilen uns wieder, erreichen die Fähre 23.30 Uhr und sind pünktlich um 24 Uhr wieder an Bord. Von Hamburg haben wir vorerst genug. Heute und morgen gehen wir nicht wieder an Land.

18. Januar 1942 Hamburg   
Und wenn zehnmal Sonntag ist, und wenn es noch so sehr jeder Tradition widerspricht, wir gehen nicht an Land. In den Luftschutzkeller wollen wir nicht wieder. Das ist ausgemachte Sache. Schließlich kann man es sich auch einmal an Bord bequem machen.
Gleich nach dem geruhsamen Mittagschläfchen fangen wir damit an. Wir setzen uns gemeinsam in den U-Raum an die Back, plaudern gemütlich, stoßen unsre Zigarette und nehmen dabei einen Kurzen nach dem anderen. Es war wunderschön und wäre wunderschön geblieben, wenn Ernst nicht bei der fünften Flasche Bier, mir nichts, die nichts, seine Unterweltallüren ausgekramt hätte.
In einem Anfall von Blechkrankheit fing er auf einmal, und ohne jede Voranmeldung, an, ziemlich vorschriftswidrig die Back abzuräumen. Zuerst faßte er die nächststehende leere Flasche am Hals und schleuderte sie in die gegenüberliegende Ecke. In schwungvollen Bögen folgten die zweite, dritte und vierte. Fein säuberlich zerbrochen lagen sie an Deck. Dann kamen der Aschebecher und die Zigaretten an die Reihe. Sie landeten ebenfalls in de Ecke. Allein Ernst wollte eine leere und saubere Back haben, und mit dem bisherigen Tempo noch nicht zufrieden, fuhr er kurzerhand mit dem ganzen Arm über die Back und fegte mit einem Zug auch noch die Likörgläschen an Deck. Dabei stieß er sich an der herabgeklappten Schlingerleiste. Ein Ruck und schon hatte er sie abgerissen, zerbrochen und durch das Bulley außenbords geworfen.
Das aber ging uns nun zu weit. Jetzt mußten wir uns einschalten; denn jetzt betrieb Ernst schiffsbauliche Veränderungen und die sind ausschließlich der Werft vorbehalten. Schließlich takelt er uns noch die ganze Back ab, zwängt sie durchs Bulley und wir essen dann vom Boden. Wir sprachen im deshalb gut zu und suchten ihn zu beruhigen. Es war aber vergebliche Liebesmüh. Nun blieb uns nichts anders übrig, als Ernst in seine Koje zu verfrachten. Genügend Mann und stark genug waren wir ja. Trotzdem spielte er uns zu guter Letzt doch noch einen Streich: ,,Wenn ich schlafen soll", rief er, ,,dann muß es finster sein!" Im nächsten Augenblick schwirrte auch schon sein Holzpantoffel zur Lampe an der niedrigen Decke – und dann war es finster. Spontane Menschen kommen eben auch ohne Lichtschalter aus. Sie sind in sich autark. -

19. Januar 1942 Hamburg
Die strenge Kälte hat etwas nachgelassen. In kleinen Flöckchen krümelt etwas Schnee vom Himmel. Trotzdem ist es das Beste, man läßt sich vom Winter gar nicht erst sehen und vergräbt sich in seine Arbeit. Neues ereignet sich auch nicht.
Unser Gewaltbackschafter von gestern kauert z. Z. in einer Ecke im U-Raum und wird von zwei Kissen gehalten, die er sich backbord und steuerbord unter die Arme geklemmt hat. Er muß sich allerhand anhören. Diese Vorhaltungen erscheinen mir aber noch zu verfrüht; denn unser guter Ernst weiß von nichts und kann sich auch auf nichts besinnen. Eine Lähmung der Gedächtnisfunktion hält ihn noch in einer unzugänglichen Schwebe. So gleicht er, haltlos und in sich zusammengefallen, einem alten Fahrradschlauch, aus dem man die Luft abgelassen hat. Lassen wir ihn. Er wird schon wieder der alte ,,Gaudi" werden.
Abends setze ich mich in meinen Funkraum und liefere den Kameraden ein zünftiges Plattenkonzert. Damit bereite ich ihnen immer die größte Freude. Viele haben zudem ihre Lieblingsmelodien, die sie immer und immer wieder hören wollen und können. Am gefragtesten ist nach wie vor Lili Marleen. Gerade diese Schallplatte aber kann ich ihnen nun nicht mehr vorspielen. Sie ist auf M 557 verblieben und mit dem Boot gesunken.
Mag dieses Lied ein letzter Gruß an unsere Kameraden auf M 557 gewesen sein. Wer weiß, wie schwer ihr Ende war, und wo sie jetzt mit ihrem Boot auf dem weiten Grunde der Ostsee liegen. –
Vom hellen Glanz der Sonne fällt kaum ein blasser Schimmer zu ihnen hinab. Der Dämmer der Ewigkeit hält sie umfangen. Unter den Kesseln sind die Feuer erloschen. In der Maschine und in den Decks, im Kartenhaus und in der Minenlast, überall steht kalt und schwer das Wasser. Durch die offenen Schotts pendelt wie ein weicher Luftzug die Strömung hin und her. Geisterhaft bewegt sie die Vorhänge am Schott und die blauen Mützen am Haken an der Wand. Sie streicht auch über blasse Wangen und bleiche, farblose Lippen. An den leergefegten Back aber sitzt stumm der Tod. Durchs dickglasige Bulley blickt scheu die buntschillernde Makrele herein und mustert die neuen, seltsamen Hausgenossen. Die rostgefleckte Scholle, die schon seit geraumer Zeit in der Backbordbrückennock liegt, ist dreister. Sie schlängelt sich durchs halbgeöffnete Schott in den Funkraum, aus dem leis und verhalten weiche Musik ertönt. Neugierig äugt sie in alle Ecken und Winkel und zwängt sich dann behutsam ins flache Nußbaumgehäuse des Plattenspielers, von dem allem Anschein nach die weichen Klänge ausgehen. Ja, hier muß es sein, die schmale schwarze Platte, die kleine zitternde Nadel. Ja, hier keimt diese seltsame weiche Melodie. Sie lauscht, lauscht: -

Unser beider Schatten             Vor der Kaserne, -
sah´n wie einer aus,                es ist so lange her.
daß wir so lieb uns hatten,             Unsere Laterne,
das sah man gleich daraus.             ich sehe sie nicht mehr.
Und alle  Leute soll´n es seh´n          Lieb und Lied gar schnell erweh´n
Wenn wir bei der Laterne steh´n,          Es war nur ein Vorübergeh´n -
wie einst Lilli Marleen.            - an dir, Lilli Marleen. -



Albatros

Hallo Seekrieg,

nichts, kein Buch kein Film keine Erzählung, nicht mal die des eigenen Vaters haben mir bislang die Geschehnisse des Krieges so nahe gebracht wie Deine Beiträge hier!

Dir ein Frohes und Glückliches Jahr 2012,

:MG:

Manfred

Seekrieg

Hallo Manfred,
vielen dank für Deine Neujahrswünsche. Man weiß nie, was es bringt, aber die  Hoffnung auf Gutes bleibt. Sie reicht von eigener Gesundheit bis zum "gesunden" Euro. Also für Dich viel Gesundheit, Erfolg im Beruf, Gelassenheit und auch Zufriedenheit! :-) Natürlich auch für alle anderen Kameraden.
Bei meinen Beiträgen bin ich oft unsicher, weil sie vielfach nur die kleinen menschlichen Seiten beleuchten, die Masse aber (siehe Fernsehen) action  und power will. Dabei sagt schon das  Sprichwort "Die Hälfte seines Leben steht der Soldat vergebens" eigentlich alles.
Im Krieg war die Familie ein wichtiger Faktor. Das sieht man schon daran, daß die Feldpost bis zuletzt funktionierte.
"Gestärkt" durch Deinen netten Beitrag werde ich also weitermachen. :MG:

Mit herzlichem Neujahrsgruß
Jürgen

Albatros

Zitat von: Seekrieg am 01 Januar 2012, 11:58:23
Hallo Manfred,

"Gestärkt" durch Deinen netten Beitrag werde ich also weitermachen. :MG:

Mit herzlichem Neujahrsgruß
Jürgen

Das hoffe ich doch sehr,gerade die kleinen menschlichen Seiten, der ,,Alltag" der einfachen Soldaten ihrer Familien, die Sorgen und auch Freuden sind das interessante, dass bekommt man sonst so nicht geschildert.
Die ,,Heroischen" Kämpfe der großen Schiffe kennen wir alle zur genüge, die kleinen Einheiten ab Zerstörer abwärts hatten glaube ich den viel härteren Alltag, da sie viel häufiger im Einsatz waren.

:MG:

Manfred


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