Bewertung der Rolle der Tirpitz im Zweiten Weltkrieg?

Begonnen von Che_Guevara, 25 November 2016, 00:24:06

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Che_Guevara

Hallöchen,

eine festgeschriebene Meinung über das Schlachtschiff Tirpitz scheint sich in den Worten Ludovic Kennedys widerzuspiegeln

"lived an invalid's life and died a cripple's death"

aber wie würdet ihr die den Einfluss der Tirpitz auf das Kriegsgeschehen bewerten? Meiner Meinung nach hat die Tirpitz in ihrer gesamten Einsatzzeit massive Resourcen der Engländer gebunden und in gewisser Weise auch vernichtet. Seit dem ersten Bombenangriff in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1940 als 17x Hampden Bomber die Tirpitz in Wilhelmshaven angegriffen haben bis zur Operation Catchism am 12. November 1944 unternahmen die Engländer fast 30 Operationen um die Tirpitz zu vernichten.

Der logistische Aufwand für die erfolglosen Unternehmen wie Source, Tungsten, Mascot und Goodwood auf der einen und die Notwendigkeit, dass jeder Konvoi durch schwere Einheiten der Royal Navy eskotiert werden musste auf der anderen Seiten müssen doch einen immensen Verbrauch von Resourcen darstellen.

Vielleicht hätte sie besser verwendet werden können, oder man hätte an ihrer statt lieber U-Boote gebaut, aber wenn man sich vor Augen führt welchen Schaden sie bei den Briten angerichtet hat (oder besser gesagt welche Kosten) und welche Ressourcen aufgewendet werden mussten um sie zu vernichten, dann werden die Worte des Herrn Kennedy ihr keineswegs gerecht.
Meiner Meinung nach war sie das erfolgreichste Schlachtschiff des Zweiten Weltkriegs und das ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Stattdessen widerstand sie über einen Zeitraum von 4 Jahren zahlreichen Angriffen (durch technische Neuheiten wie den X-Craft und der Tallboy, von der sie einen Volltreffer überstand).

Sehr ihr das ähnlich?

Grüße
Che



t-geronimo

Gruß, Thorsten

"There is every possibility that things are going to change completely."
(Captain Tennant, HMS Repulse, 09.12.1941)

Forum MarineArchiv / Historisches MarineArchiv

tirpitzpeter

Ich denke du solltest dich nochmal etwas ausführlicher mit der Tirpitz beschäftigen.
Bedenke (nebst vielen anderen Faktoren) was von deutscher Seite alles unternommen wurde um die Einsame Königin am schwimmen zu halten bzw. um sie zu schützen. Und nicht zuletzt wieviele Menschenleben die verschiedenen Angriffe kosteten ehe sich die Tirpitz auf den Rücken gelegt hat.
Ich denke dann wirst du manches etwas anders bewerten.
"Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit"! (Rammstein)
"Ein formal stimmiges Produkt braucht keine Verzierung" (Ferdinand Porsche)

Big A

Zitatoder besser gesagt welche Kosten

... das interessiert doch im Krieg am wenigsten...

Axel
Weapons are no good unless there are guts on both sides of the bayonet.
(Gen. Walter Kruger, 6th Army)

Real men don't need experts to tell them whose asses to kick.

Urs Heßling

moin,

die von Dir genannten Angriffe werden im englischen wiki als unsuccessful bezeichnet.
Das bedeutet ais britischer Sicht : Sie zerstörten das Schiff nicht.

Es wäre aber falsch, sie als erfolglos zu betrachten. Source bewirkte eine mehr als halbjährige Ausfallzeit und eine strukturelle Schwächung, Tungsten eine mindestens 3-monatige Ausfallzeit und den Tod von mehr als 100 Besatzungsmitgliedern.

Die "Karriere" der Tirpitz ist aus meiner Sicht eher tragisch. Sie wurde mit immensem Aufwand in einem eher rohstoffarmen Staat gebaut und war in einer Dienstzeit von ca. 1440 Tagen bei 4 Operationen gerade einmal 12 Tage in See (Baltenflotte 9/41, PQ.12 2/42, PQ.17 7/42, Spitzbergen 9/43) = < 1 %.

Die Fleet-in Being der Tirpitz war/ist unbetritten hoch, aber
Zitat von: Che_Guevara am 25 November 2016, 00:24:06
Meiner Meinung nach war sie das erfolgreichste Schlachtschiff des Zweiten Weltkriegs
Sehe ich das ähnlich ? Nein.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Baunummer 509

Hallo zusammen,

vermutlich ist der Kern des Problems bei der Beurteilung Ihrer Rolle, dass die Auswirkungen der "Fleet in Being" nicht in direkten Material- oder Personalverlusten und auch nicht in direkten Kosten zu bemessen ist. Vom Schwesterschiff weiß man welche gegnerische Einheiten es versenkt hat oder welche Flugzeuge beim Einsatz gegen es verloren gingen, vielleicht sogar wie viel Treibstoff dabei verfeuert wurde.

Ich denke man müsste also versuchen genau solch eine Rechnung aufzumachen, die - vielleicht etwas zynisch - aber sachlich alle Kosten auflistet (und dabei auch Personalverluste "einberechnet"). Diese müsste man dann versuchen in Relation mit anderen Schlachtschiffen zu bringen. Dann könnte man vielleicht (und selbst dann vermutlich mit eher unscharfen Zahlen) Vergleiche anstellen und eine Bewertung durchführen.

Meine gefühlte Einschätzung ist, dass Tirpitz Kampfwert aus deutscher Sicht unnütz verschwendet wurde und an der Weiterführung der Konvois Richtung Murmansk letztendlich nichts geändert hat. Die Konvois kamen durch und haben Material geliefert das half die deutsche Ostfront zu schwächen. Der Einsatz an Material und Personal um Tirpitz zu binden war sicher enorm, wäre aber nur dann entscheidend gewesen wenn der Gegner es sich eigentlich nicht hätte leisten können diese Einheiten abzustellen. Konnte er aber.

Vielleicht wäre das anders gewesen wenn man sie mutig und sehr offensiv eingesetzt hätte (das hätte große Kapazität für Reparatur usw. notwendig gemacht).
Vielleicht hätte das aber auch zu ihrem frühen Verlust geführt. Viele Vielleicht.
Eine andere Basis für eine Beurteilung kenne ich derzeit nicht.

Ich bin also eher Urs's Ansicht.

Gruß, Sebastian

bodrog

Die "Fleet in being"-Theorie bezogen auf Tirpitz lässt zwei Sachen außer Acht: Die meisten Güter erhielt die Sowjetunion via Wladiwostok per eigene Schiffe und zweitwichtigste Route war der "perische Korridor" - da sieht man mal, wie mariginal die Nordmeergeleite waren und welch immense deutsche Kräfte auf dieser eigentlich nebensächlichen Route gebunden waren...

t-geronimo

Wenn die Route so nebensächlich war, muß man aber hinterfragen, warum die Alliierten dann überhaupt den durchaus nicht kleinen Aufwand betrieben haben, sie zu betreiben.
Gruß, Thorsten

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(Captain Tennant, HMS Repulse, 09.12.1941)

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ede144

Zitat von: bodrog am 25 November 2016, 13:02:16
Die "Fleet in being"-Theorie bezogen auf Tirpitz lässt zwei Sachen außer Acht: Die meisten Güter erhielt die Sowjetunion via Wladiwostok per eigene Schiffe und zweitwichtigste Route war der "perische Korridor" - da sieht man mal, wie mariginal die Nordmeergeleite waren und welch immense deutsche Kräfte auf dieser eigentlich nebensächlichen Route gebunden waren...

Es ist schon schön, wenn man einen Hafen nur mit eigenen Schiffen anlaufen kann, von denen es nur eine begrenzte Anzahl gibt und dann die Güter per einspuriger Bahn durch die halbe Welt transportiert werden müssen. Und der persische Koridor funktionierte auch erst, nachdem man eine Straße gebaut hatte. Auch da war die Kapazität begrenzt und der Weg lang.

Deshalb war Murmansk weder marginal noch überflüssig. Er war der kürzeste Weg von englischen Versorgungsgütern an die Front.

juergenwaldmann

Hallo Thorsten ,
drei Wege für die Waffen und Material-Lieferung , das ist besser , als ein Transportweg !
Es waren Unmengen , die an Russland geliefert werden mussten :

https://de.wikipedia.org/wiki/Leih-_und_Pachtgesetz#Die_Hilfslieferungen_an_die_Sowjetunion

Die Lieferungen begannen , als der Krieg mit dem Unternehmen " Barbarossa " begann ,
da war die USA noch nicht Kriegsgegner ! Zur ersten Lieferung gehörten 34 000 Funkgeräte ,
die dringend in den russischen Panzern und Flugzeugen benötigt wurden . Die Funkgeräte
sind über den Pazifischen Weg  geliefert worden . Innerhalb Russlands dauerte der Transport
dann deutlich länger , als mit den Schiffen aus den USA nach Wladiwostok .
Gruss  Jürgen

t-geronimo

Das ist mir klar, Jürgen.  :wink:
Eigentlich wollte ich indirekt darauf hinweisen, dass die Nordmeer-Konvois weder marginal noch nebensächlich waren.
Ich hätte es so direkt wie ede144 machen sollen.  8-)
Gruß, Thorsten

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Urs Heßling

moin,

Zitat von: Urs Heßling am 25 November 2016, 08:43:03
Zitat von: Che_Guevara am 25 November 2016, 00:24:06
Meiner Meinung nach war sie das erfolgreichste Schlachtschiff des Zweiten Weltkriegs
Sehe ich das ähnlich ? Nein.
Laß mich das "nein" relativieren.

Ich räume ein, daß die Tirpitz, gemessen an ihrem mit anderen Schlachtschiffen verglichenen Kampfwert, de facto eines der einflußreichsten Schiffe des 2. Weltkriegs war.

Erfolgreich ist schon schwer zu definieren.
Es gab ein U-Boot, daß die meisten Schiffe bzw. die höchste Tonnagezahl versenkt hat.
Es gab ein Schnellboot, daß die meisten Schiffe bzw. die höchste Tonnagezahl versenkt hat.
Es gab einen Zerstörer (oder zwei), der die meisten U-Boote versenkt hat.
Das waren, nur gemessen an Zahlen, also die "erfolgreichsten".
Aber die einflußreichsten ?
Vielleicht die Cossack, deren Überfall auf die Altmark zum Entschluß für Weserübung führte ?

bei Schlachtschiffen könnte man an die Warspite (Narvik, Punta Stilo, Kap Matapan, Normandie) denken, oder an die Washington, die bei Guadalcanal die Kirishima besiegte ..

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Che_Guevara

#12
Laut der Übersicht der Statistiken von Engines of the Red Army wurden im Laufe des Krieges folgende Versorgungsgüter an die UdSSR geliefert. Gesamtübersicht http://www.o5m6.de/Numbers_Foreign.html

Und hier sind die genauen Zahlen zur Nördliche Route
http://www.o5m6.de/northern.html



ZitatAltogether, 41 convoys of 738-811 transports arrived within the Arctic Circle over the war years, bringing 4.2 million tons of supplies to Arkhangelsk and Murmansk.
Murmansk alone received

    2,146 A-20C, P-39, P-40, Hurricane, Spitfire and Mustang planes;
    4,198 M-3 [light...] [...and medium] , M-4, Mathilda, Valentine and Churchill tanks;
    138 selfpropelled gun mounts;
    128 armored personnel carriers and cross-country vehicles;
    276 tractors;
    76 trailers;
    640 37-90-mm artillery guns;
    813 radars;
    7,737 radio stations;
    971 battery re-charging stations;
    62 tank repair shops;
    870 Diesel engines;
    1,393 various petrol engines and
    a multitude of other supplies.

The Soviet side dispatched to the West 726 transports as part of 36 Allied convoys carrying about 1.5 million tons of Soviet exports (such as strategic materials - manganese, chromium, asbestos, platinum).

At sea, Luftwaffe and Kriegsmarine managed to sink 38 Soviet and 77 Allied transports plus 18 British men-of-war, with 7.5% of the supplies carried by Russia-bound polar convoys lost (as against the Atlantic convoy loss average of 0.7%).

Nur als Anmerkung gedacht um die Bedeutung der Nordmeer Gleitzüge besser einordnen zu können.

Zitat von: t-geronimo am 25 November 2016, 01:02:49
Operation Source war erfolglos?  :?

Erfolglos im Sinne von X8 und X9 gingen verloren bevor sie den Einsatzraum erreichten. Der Angriff von X10 auf die Scharnhorst wurde durch technische Probleme verhindert (und dem Umstand dass die Scharnhorst gar nicht am vorgesehenen Ankerplatz lag). X5 wurde vermutlich durch die MA der Tirpitz versenkt. Nur X6 und X7 konnten die Sprengladungen anbringen und die Tirpitz zwar beschädigen, aber nicht dauerhaft außer Gefecht setzen. Mit dem Verlust von fünf der sechs eingesetzten X-Class Uboote und den ursprünglichen Operationszielen die Tirpitz, Scharnhorst und die Lützow auszuschalten würde ich die Operation gemessen an dem Aufwand eher als erfolglos bezeichnen.  :wink:



Grüße
Che

Urs Heßling

moin,

Zitat von: Che_Guevara am 25 November 2016, 14:48:57
Mit dem Verlust von fünf der sechs eingesetzten X-Class Uboote und den ursprünglichen Operationszielen die Tirpitz, Scharnhorst und die Lützow auszuschalten würde ich die Operation gemessen an dem Aufwand eher als erfolglos bezeichnen.
Da widerspreche ich ganz entschieden.
Die Ausschaltung der Tirpitz für das gesamte Winterhalbjahr 1943/44 hat mM die Aufgabe der RN, die Murmansk-Geleitzüge zu decken, ganz erheblich erleichtert.

Gruß, Urs
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Matrose71

#14
Salve,

die Nordmeer Route war nur schmückendes Beiwerk, selbst wenn man sie dauerhaft ausgeschaltet hätte, wäre das nur Kosmetik gewesen.

Die absolut entscheidenden Lieferungen waren 1942 und 1943 und bestanden aus Weizen, Fertignahrungsmittel und LKW und kamen über Wladiwostok aus den USA!
Auch Funkgeräte, Werkzeugmaschinen etc etc. waren wichtig, entscheidend waren aber die Nahrungsmittel und LKW, nur dadurch war die UdSSR 1942 in der Lage überhaupt durchzuhalten und die Reserven für den Angriff auf Stalingrad und danach Rostow aufzubauen.

Die Nahrungsmittellieferungen, die über 1/3 der gesamten Nahrungsmittel 1942/43 der UdSSR ausmachten, schlugen gleich drei Fliegen mit einer Klappe:

1. Mehr Soldaten die keine Nahrungsmittel anbauen und ernten mussten.
2. Keine oder nur marginale Unterhaltung eines Logistik und Transpotsystems, da die Nahrungsmittellieferungen an an einem Eisenbahnknotenpunkt ankamen, von dem sie aus transpotiert und verteilt werden konnten
3. Die LKW konnten direkt für die Rote Armee verwendet werden, ohne die Nahrungsmittellieferungen, hätte ein Großteil für den Transpüort und die Logistik zur Verteilung der eigenen produzierten Nahrungsmittel eingesetzt werden müssen, was den desolaten Motoriesierungsgrad (LKW) der Roten Armee ab 1942 wesentlich verschlimmert hätte.

Das waren die kriegsentscheidenden Lieferungen und Auswirkungen, alles andere war nice to have, aber nicht kriegsentscheidend.
Viele Grüße

Carsten

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