Wie Europa in den Krieg wandelte

Begonnen von Matrose71, 27 Oktober 2013, 06:03:45

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Götz von Berlichingen

@ Spee:

Theoretisch ist das so, klar. Doch der Teufel steckt wie immer im Detail:

Man wird davon ausgehen dürfen, daß im Ernstfall die Ansichten der beiden Kriegsparteien, was ein "unprovozierter Angriff" ist, beträchtlich auseinandergehen, zudem war der Angriff Italiens auf die Türkei 1911 ein Kolonialkrieg, in dem es natürlich nicht um die Existenz Italiens ging.

Aber nehmen wir als Beispiel 1914: In Rußlands Sicht ist die Kriegserkärung Österreich-Ungarns an Serbien mit Sicherheit ein unprovozierter Angriff. Die Österreicher und Ungarn sahen sich dagegen gewaltig provoziert.
In den Augen des Deutschen Reiches war die russische Generalmobilmachung - auch gegen Deutschland - vom 30. Juli 1914 eine Provokation. Die Russen würden dies abstreiten.

Oder 1941: In der Sicht der USA war der japanische Angriff auf Pearl Harbor ein "unprovozierter Angriff". Die Japaner sahen das dagegen anders (Sanktionen, Ölembargo, Einfrieren der japanischen Guthaben usw.)
Deutschland wäre auch 1941 (als der Krieg im Atlantik seit dem US-Schießbefehl - shoot on sight order - de facto seit September bereits im Gang war) in der Lage gewesen, auf den Vertragstext des Dreimächtepakts zu verweisen und ebenso neutral zu bleiben wie es die Japaner mit Verweis auf diese Klausel gegenüber der Sowjetunion taten.

Schließlich 2001 Afghanistan: der einzige "Bündnisfall" der NATO - dafür war sie nicht gegründet worden. Und doch hat kein einziger Mitgliedsstaat die Meinung vertreten, es liege ein "unprovozierter Angriff" auf Afghanistan vor.

Grey hat im Falle der Zusicherungen an Frankreich, die er wohl eher als ein "Gentleman's agreement" sah, über das er bekanntlich sogar das eigene Parlament belogen hatte, sinngemäß geäußert, wenn man den Franzosen jetzt nicht beistehe, werde Großbritannien jedes Prestige und Ansehen in der übrigen Welt verlieren, sein Wort werde nichts mehr gelten und es werde nicht mehr in der Lage sein, Verbündete zu gewinnen.

Dies ist im Falle einer kriegerischen Verwicklung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland ein Gesichtspunkt, der zu berücksichtigen wäre. Beide Seiten würden im Hinblick auf den Terminus "unprovozierter Angriff" gänzlich entgegengesetzte Positionen vertreten und wie der britische Premierminister zum König 1914 in Bezug auf Belgien sagte "the question if it arises will be one of policy rather than of obligation".

Die Frage ist, was ein Bündnis mit einem Staat wert ist, der sich im Ernstfall (und daß Österreich-Ungarn nicht einen Eroberungskrieg gegen Rußland planen konnte ist im Bezug auf die gegeneitigen Kräfteverhältnisse klar) aus dem bestehenden Bündnisvertrag mit juristischen Winkelzügen herauswindet.

Urs Heßling

moin, Thomas,

Zitat von: Spee am 25 November 2013, 21:53:29
Die gern zitierte Einkreisung ist und bleibt der Dummheit in Deutschland geschuldet.
Laß es mich einmal einschränken: nicht ausschließlich, oder: ganz wesentlich
Das Bündnis Frankreich-Rußland, das sich mM mit zunehmender Stärke von einem Defensiv- in ein Offensivbündnis wandelte, liegt zeitmäßig vor der deutschen "Selbst-Isolierung".

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

ede144

Zitat von: Götz von Berlichingen am 25 November 2013, 22:46:54

Die Frage ist, was ein Bündnis mit einem Staat wert ist, der sich im Ernstfall (und daß Österreich-Ungarn nicht einen Eroberungskrieg gegen Rußland planen konnte ist im Bezug auf die gegeneitigen Kräfteverhältnisse klar) aus dem bestehenden Bündnisvertrag mit juristischen Winkelzügen herauswindet.

Nun das war im Krimkrieg aber anders. Da haben österreichische Drohungen den Zaren auch sehr schnell umgestimmt.

bodrog

dit war aber 70 Jahre vorher - mal mit Politik auseinandergesetzt. Stichwort: Schweinekrieg

Götz von Berlichingen


Matrose71

Anscheinend wird das jetzt auch in England etwas kontroverser diskutiert:

http://www.welt.de/geschichte/article123683306/Britischer-Minister-gibt-Deutschen-die-Kriegsschuld.html#disqus_thread

Es gibt zumindestens auch öffentlich Gegenwind, gegen solche einseitigen Thesen.
Viele Grüße

Carsten

Urs Heßling

moin,

Aus meiner Sicht sehr empfehlenswert  top top top :  Herfried Münkler, Der Große Krieg

Eine Reihe von kleinen Detailfehlern, besonders betr. der Marine, beeinträchtigt nicht eine großartige, mit Sprachgebrauch und Logik beeindruckende Darstellung des Weges zum Krieg und des (auch falschen) Umgangs deutscher Geisteswissenschaftler mit diesem Thema.
Besonders die schwer faßbare Persönlichkeit Bethmann-Hollweg wird ausführlich behandelt.

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Karsten

Urs, danke dafür. Das Buch liegt hier und harrt der Lektüre!
Viele Grüße,

Karsten

Hastei

hallo,
kennt Ihr das Buch Juli 1914 von Emil Ludwig ?
Hatte es vor ca. 30 Jahren von meinen brit.Freund bekommen.
Ich müsste es nochmals lesen, ist schon so lange her,aber es hatte mich beeindruckt, wenn ich mich recht erinnere.
Gruß
Hastei

Urs Heßling

moin, Karsten,

Zitat von: Karsten am 22 Januar 2014, 21:59:23
Das Buch liegt hier und harrt der Lektüre!
VV = viel Vergnügen !

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Urs Heßling

moin,

noch´n Buch: Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg

Das Buch bringt viele sehr interessante und bisher wenig bzw. unbekannte deutsche Originaldokumente und betrachtet kritisch viele Aspekte der deutschen Kriegführung.

Dennoch mag ich es nur eingeschränkt empfehlen.

Anbei einige Beispiele von Fehlern, die mich störten:
[Bei Kriegsausbruch]" auch waren die deutschen Schiffsgeschütze mit durchschnittlich [!] 30,5 Zentimeter kleiner ausgelegt als die britischen Geschütze mit einem Zaliber von 38 Zentimetern"

"1905/06 begann die britische Admiralität mit dem Bau sogenannter Dreadnoughts, bis zu 18000 Tonnen schwerer Riesenschlachtschiffe, denen die Deutschen nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnten"

[November 1917] "Zu diesem Zeitpunkt stellten die U-Boote keine wirkliche Gefahr mehr für die britische Flotte dar"

[1914] "Die deutsche Marineführung beschränkte sich zunächst auf das Aufbringen (!) und Versenken von britischen Schlachtschiffen."

[Februar 1915] "Der Beschuss unterhalb der Wasserlinie galt als seekriegswidrig, kam aber schließlich immer häufiger zur Ausführung, weil sonst die vorgewarnten und mit treffsicheren Geschützen ausgerüsteten Kriegsschiffe die U-Boote leicht hätten versenken können."

[1917] "Mit den maximal sechs Torpedos, die ein U-Boot .. mit sich führen konnte ..."

Mag sein, daß ich diese Dinge zu kritisch sehe, möge sich jeder Leser selbst ein Bild machen.

Gruß, Urs

"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Karsten

Zitat von: Urs Heßling am 22 Januar 2014, 22:45:27
moin, Karsten,

Zitat von: Karsten am 22 Januar 2014, 21:59:23
Das Buch liegt hier und harrt der Lektüre!
VV = viel Vergnügen !

Gruß, Urs
Moin Urs, danke, werde ich haben! Das Buch von Hirschfeld/Krumeich habe ich in der Buchhandlung wieder auf den Stapel zurückgelegt, weil ich mir nicht sicher war, ob sich der Kauf lohnt ...
Viele Grüße,

Karsten

Urs Heßling

#42
moin, Karsten,

Zitat von: Karsten am 23 Januar 2014, 08:02:25
Das Buch von Hirschfeld/Krumeich habe ich in der Buchhandlung wieder auf den Stapel zurückgelegt, weil ich mir nicht sicher war, ob sich der Kauf lohnt ...
Tja, wie gesagt, eine wirkliche Sammlung interessanter Originaldokumente ...

aber (ich erinnere mich, Du bist auch landkriegsinteressiert (Spanien)) noch ein paar Beispiele  :roll:
[Ende August / September 1914]
Während sich die belgische Armee hinter den Festungsgürtel um die Stadt Antwerpen zurückzog, ... , traten die französischen Einheiten und das kleine .. britische Expeditionskorps ... überstürzt den Rückzug an.
Keine Erwähnung der (BEF-)Schlachten von Mons und Le Cateau !
[Marneschlacht]
Verantwortlich hierfür war die geradezu lächerliche Überheblichkeit der Oberkommandierenden der größten Angriffsarmeen, Kluck und Bülow. Anstatt den Bogen um Paris herum zu schlagen, setzten sie auf eine Verfolgung des nach den ersten Niederlagen vermeintlich in Auflösung befindlichen Gegners.
Diese Auslegung der deutschen Fehler (nicht: fehlender Nachschub, fehlende Korps) im Vorfeld der Marneschlacht ist mir neu.
[nach der Marneschlacht]
Nur 40 Kilometer vor Paris mussten die deutschen Armeen umkehren und sich bis zu den Ardennen zurückziehen.
Also nix mit "Les Allemands sont à Noyon" ? ... Schon `mal auf die Karte Nordfrankreichs geschaut ?

Gruß, Urs

"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

Matrose71

Sehr zu empfehlen:

Prof. Dr. Sönke Neitzel, Dr. Juliane Haubold-Stolle, Prof. Dr. Herfried Münkler und Prof. Dr. Gerd Krumeich (v.l.n.r.) im Berliner Büro der Körber-Stiftung

http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/videos_watch.php?nav_id=4742

Sehr gutes Podiumsgespräch!
Viele Grüße

Carsten

Urs Heßling

moin,

Die Beilage der neuen ZEIT beschäftigt sich auch mit dem Thema "1914" (aus deutscher Sicht)

Man wird durch das Titelbild, eine auf einer Pickelhaube aufgespießte Friedenstaube, gleich auf die vorherrschende politische Meinung eingestimmt  :roll:

Einige Beiträge sind gar nicht schlecht, z.B. über Fritz Haber.

Wer allerdings die Meinung vertritt, in der Skagerrakschlacht seien die Verluste beider Seiten etwa gleich gewesen und wer Lettow-Vorbeck als Oberleutnant (sic!) zum Kommandeur der Schutztruppe macht, sollte sich vielleicht doch anderen Themen zuwenden  :-D

Gruß, Urs
"History will tell lies, Sir, as usual" - General "Gentleman Johnny" Burgoyne zu seiner Niederlage bei Saratoga 1777 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - nicht in Wirklichkeit, aber in George Bernard Shaw`s Bühnenstück "The Devil`s Disciple"

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